3.10.2023
Das Wort vipallāsa (im Plural verwendet) bedeutet „Verwirrung“. Man wird verwirrt, weil man die falschen Sichtweisen hat (diṭṭhi). Das führt zu verzerrten Wahrnehmungen (saññā), die das Denken (citta) beeinflussen. Auf diese Weise erzeugen wir (abhi)Saṅkhāra, was zukünftiges Leiden bewirkt.
Falsche Sichtweisen kommen zuerst
1. Die eigenen Wahrnehmungen (saññā) sind eng mit den Sichtweisen (diṭṭhi) verbunden. Beide beeinflussen das Denken (citta) und damit Saṅkhāra.
Die meisten Weltanschauungen basieren auf den Vorstellungen unserer Familien, Freunde und Religionen, in die wir hineingeboren werden. Diese Einflüsse spielen eine wichtige Rolle für unsere Sichtweisen. Sie prägen wiederum unsere Wahrnehmungen und unser Denken – und erzeugen so Saṅkhāra.
- Es ist nicht möglich, die verzerrten Wahrnehmungen loszuwerden (viparita saññā), ohne die fehlerhaften Sichtweisen zu korrigieren (micchā diṭṭhi oder schlicht diṭṭhi).
- Einige dominante Sichtweisen müssen korrigiert werden, bevor man überhaupt zu anicca saññā kommen kann.
Falsche Sichtweisen über Himmel, Hölle und Menschenreich
2. Viele Menschen glauben an einen ewigen Himmel nach dem Tod. Diese Vorstellung basiert auf der Sichtweise von drei „Reichen“: Himmel, Hölle, Menschenreich. Diese Sichtweisen und die entsprechende Wahrnehmung stammen von Familien, wo diese über Generationen hinweg durch religiöse Lehren vermittelt wurden.
- Diese Weltanschauung besagt auch, dass ein Schöpfer die Erde geschaffen hat. Dieser Schöpfer wohnt im Himmel, und die Menschen, die an diesen Gott glauben, werden auch in den Himmel kommen. Die Ungläubigen werden angeblich in der Hölle geboren und bleiben dort auf ewig.
- Auch wenn die moderne Wissenschaft diese kosmische Sichtweise ablehnt, folgen viele Menschen diesem Glauben. Da draußen sind Billionen von Planetensystemen, genau wie unseres.
- Erstaunlicherweise sind sogar einige Wissenschaftler bereit, die wissenschaftlichen Fakten zu ignorieren. Sie glauben (d.h. sie haben die Vorstellung), dass ein Schöpfer die Erde und das gesamte Universum gemacht hat. Ich bin mir nicht sicher, was ihre Vorstellung darüber ist, wo dieser Schöpfer inmitten dieser Billionen Planetensysteme wohnt.
Falsche Sichtweisen über Tiere
3. Ein weiteres Beispiel ist das Töten von Tieren zu Sportzwecken, wozu auch das Fischen gehört. Dies beruht auf der Sichtweise, dass Tiere keine Gefühle haben und vom Schöpfer für den menschlichen Verzehr geschaffen wurden. Diese Ansicht ist so tief verwurzelt, dass viele Menschen, die ansonsten ein moralisches Leben führen, das Leiden dieser Tiere nicht sehen.
- Fische können zwar nicht schreien, aber der starke Schmerz eines zappelnden Fisches, der sich an einem Haken verfangen hat, ist deutlich erkennbar. Er spürt den Schmerz im Maul aufgrund des Hakens. Er leidet auch unter dem Sauerstoffmangel, da er nicht wie wir atmen kann.
- Höhere Tiere sind in der Lage, neben anderen Emotionen auch Schmerz zu zeigen. Jeder, der einen Hund oder eine Katze als Haustier hält, weiß, dass diese Tiere genau wie Menschen Gefühle haben.
- Aber wir neigen dazu, solche leicht erkennbaren Dinge wegen der tiefsitzenden Diṭṭhis zu ignorieren.
4. Wir alle hatten jedoch Tier-, Deva– und Brahma-Geburten. Das Verständnis dieser Tatsache sollte die eigene Wahrnehmung von Tieren verändern.
- Doch selbst in buddhistischen Ländern gibt es Fischerdörfer, in denen der Fischfang die Lebensgrundlage vieler Menschen ist, die dies seit Generationen tun.
- Manche mögen sagen, dass diese Menschen ihren Lebensunterhalt für ihre Familien verdienen müssen. Aber dieses Argument ist nicht besser als das Argument, dass ein Drogensüchtiger eine weitere Dosis inhalieren muss, um den Tag zu überstehen: Die langfristigen Folgen sind unendlich viel schlimmer.
- Es ist üblich, dass die älteren Generationen ihren Kindern oder Enkeln beibringen, wie man fischt oder Tiere jagt. Dieser Brauch wird von Generation zu Generation weitergegeben.
- Dennoch können wir Tierleben nicht mit Menschenleben gleichsetzen, wie manche Tierschützer glauben. Wenn man Buddha Dhamma versteht, kann man vermeiden, in diese beiden Extreme zu verfallen.
Falsche Sichtweisen führen zu falschen Wahrnehmungen (saññā)
5. Die obigen Beispiele zeigen große micchā Diṭṭhi. Man kann verzerrte Wahrnehmungen (viparita saññā) beseitigen, indem man falsche Sichtweisen korrigiert. Das Lernen des Buddha-Dhamma beseitigt falsche Sichtweisen.
- Der Hauptgrund für solche Diṭṭhis über Generationen hinweg, ist die Unfähigkeit, solche tief verwurzelten Überzeugungen durch Kontemplation über Fakten zu „durchbrechen“.
6. Eine weitere falsche Sichtweise betrifft den hohen Wert, den wir der „Verschönerung“ unseres Körpers beimessen. Diese Auffassung ist in den westlichen Ländern vorherrschend, nimmt aber auch in anderen Ländern zu.
- Die Menschen geben jedes Jahr Milliarden aus, um ihren Körper „schöner“ zu machen. Sie sind sich der folgenden Tatsache nicht bewusst oder ziehen sie nicht einmal in Betracht. Egal, wie viel Geld man ausgibt, der eigene Körper wird nicht lange in Top-Form bleiben.
- Diese falsche Wahrnehmung führt zu einem erhöhten Leidensdruck im Alter, wenn der Körper gebrechlich und weniger attraktiv wird. Auch schwere Depressionen sind möglich.
- Versteht man hingegen die anicca-Natur, ist das Alter schlicht eine Tatsache des Lebens. Solange das Gehirn optimal funktioniert, sollte man seine „besten Jahre“ für Fortschritte auf dem edlen Pfad einsetzen.
Eigenschaften aller Saṅkhata
7. Alles in dieser Welt – lebendig oder leblos – hat die anicca-Natur. Ein Saṅkhata entsteht (uppāda) und wird zerstört (vaya). Dazwischen existiert es, unterliegt aber unerwarteten Veränderungen (ṭhitassa aññathattaṁ). Das sind die drei Stufen eines Saṅkhata. Siehe: Ānanda Sutta (SN 22.37).
- Manches in dieser Welt überdauern nur kurze Zeit: z.B. eine Fliege oder eine Blume. Andere Dinge und Wesen können Dutzende Jahrzehnte leben: z.B. Menschen oder Autos. Manche Dinge/Wesen leben viel länger: z.B. Brahmā oder ein Stern. Aber schließlich zerfällt alles und wird zerstört.
- Auch wenn manche Saṅkhata Sinnesfreuden bieten, vergehen auch diese. Am Ende steht Leiden.
Vier Arten von Vipallāsa (Verwirrungen)
8. Der Buddha erklärte, dass es vier Arten von Vipallāsa gibt (davon jeweils diṭṭhi, saññā, citta): nicca, sukha, atta, subha. Siehe Vipallāsa Sutta (AN 4.49) bzw. Suttavebhaṅgiya (Pe 9). Die ersten Drei haben wir besprochen. Asubha (unangenehm, unattraktiv) ist hauptsächlich mit olārika Sinnesvergnügen in Kāmaloka verbunden (schmecken, riechen, Körperkontakt). Das Gegenteil ist subha (angenehm, verlockend).
- Ganz gleich, wie verlockend diese Sinnesfreuden auch sein mögen, solche Anhaftungen halten ein Wesen in Kāmaloka gefangen. Deshalb sind sie mit Weisheit betrachtet unattraktiv (asubha).
9. Jede Vipallāsa hat drei Variationen (Schichten) von diṭṭhi, saññā, citta.
- Jede Verwirrung kann durch Sichtweisen, Wahrnehmungen und die Art des Denkens ausgedrückt werden. Sie betreffen die Saṅkhāra-Erzeugung, insbesondere puñña abhisaṅkhāra und apuñña abhisaṅkhāra.
Verwirrung über Tilakkhana führt zu Sankhāra
10. Betrachten wir diṭṭhi, saññā, citta vipallāsa über nicca als Beispiel.
- Wir haben die falsche Sichtweise, dass Dinge in dieser Welt von nicca-Natur sind, d.h., dass man sie so haben kann, wie man will. Das ist diṭṭhi vipallāsa über die tatsächliche anicca-Natur.
- Aufgrund dieser falschen Sichtweise entwickeln wir saññā vipallāsa über die anicca-Natur dieser Dinge: Wir nehmen sie als nicca wahr.
- Damit denken wir verzerrt darüber (citta vipallāsa) und generieren (abhi)Saṅkhāra, die den Wiedergeburtsprozess verlängern.
- Deshalb generieren wir immer wieder manō saṅkhāra (automatische Gedanken über weltliche Sinnesobjekte), vaci saṅkhāra (bewusste Gedanken oder Sprechen) und handeln entsprechend (kāya saṅkhāra).
Sankhāra bringen Leiden
11. Abhisaṅkhāra bringen Leiden in diesem Leben und in zukünftigen Wiedergeburten. Das sind Saṅkhāra, die aufgrund von Avijjā entstehen: „avijjā paccayā (abhi)sankhārā„.
- Deshalb ist es wichtig, zuerst das Dhamma zu lernen und zu erkennen, dass Leiden in diesem Leben durch bewusste Gedanken und Handlungen entsteht. Nicht nur das, sondern auch, dass das Entstehen von Leiden verhindert werden KANN.
- Sobald man diese Tatsache begreift und dementsprechend lebt, kann man Niramisa Sukha erfahren. Außerdem hilft das, wahren Glauben (saddha) im Buddha Dhamma zu finden.
12. Auf dieser Stufe kann man die anicca-Natur des Wiedergeburtsprozesses begreifen. Die Wahrheit des Wiedergeburtsprozesses ist, dass man nirgendwo in den 31 Reichen dauerhaftes Glück finden kann.
- Außerdem wird man „sehen“, dass in den unteren vier Reichen (apāyā) unvorstellbare Leiden existieren. Das wird helfen, diṭṭhi vipallāsa über dukkha loszuwerden. Anstelle der falschen Sichtweise, dass es in den Menschen-, Deva– oder Brahma-Reichen Glück gibt, wird man die Gefahren in Samsara „sehen“.
- Man wird auch erkennen, dass man wirklich hilflos ist, wenn man in diesem Wiedergeburtsprozess verbleibt. So wird man diṭṭhi vipallāsa los und die anatta-Natur wirklich „sehen“.
- Man wird auch „sehen“, dass die Dinge dieser Welt auf lange Sicht nicht subha sind, d.h. dass sie nicht verlockend oder attraktiv sind. Die Anhaftung an irgendetwas in dieser Welt wird auf lange Sicht zu Leiden führen. Ein Sōtapanna wird also auch diṭṭhi vipallāsa über subha beseitigt haben.
Saññā Vipallāsa
13. Saññā kommt von san + gnāna, was „Weisheit über San“ bedeutet. Aber normale Menschen haben nur viparita saññā oder saññā vipallāsa: sie sehen San nicht als schlecht.
- Die Beseitigung von saññā vipallāsa erfordert das Entfernen von diṭṭhi vipallāsa, was wiederum sammā diṭṭhi erfordert. Dann wird man den Nutzen oder Schaden in jedem Sprechen oder Tun wahrnehmen.
- Wenn man die richtige Vision hat und die Dinge so wahrnimmt, wie sie sind, wird man anfangen, in diesem Sinne zu denken. Dann wird man beginnen, citta vipallāsa zu entfernen.
Beseitigung von Vipallāsa
14. Zur Vollständigkeit enden wir hier mit technischen Details. Alle drei Vipallāsa über anicca und anatta verschwinden auf der Sōtapanna-Stufe. Bezüglich dukkha und asubha verschwindet aber nur diṭṭhi vipallāsa. Siehe den Abschnitt Vipallāsakathā im Paṭisambhidāmagga.
- Obwohl ein Sōtapanna „sieht“, dass die Dinge dieser Welt letztendlich nur zu Leiden führen können, neigt er/sie immer noch dazu, Sinnesfreuden zu genießen (kama assada). Das liegt an noch vorhandenen saññā und citta vipallāsa über sukha und nicca.
- Nun wird vielleicht klar, warum ein Sotapanna nur noch wenige Verunreinigungen hat (kilesa). Er wird nur noch von Kāma angezogen, hat aber die anicca- und anatta-Natur (weitgehend) erfasst. Natürlich ist die Anziehungskraft von Kama ziemlich stark, aber es reicht nicht mehr für starke apunnabhisankhara (apāyagāmi sankhara).
- Saññā vipallāsa über sukha und subha wird auf der Sakadāgāmi-Stufe vermindert und auf der Anāgami-Stufe vollständig beseitigt. Auch wenn ein Anāgami das Verlangen nach Sinnesfreuden in Kāmalōka entfernt hat, wird er/sie immer noch zum Genuss von Jhānā neigen. Vipallāsa verschwinden vollständig erst auf der Arahant-Stufe.
15. Die Beseitigung von saññā bzw. citta vipallāsa auf Anāgāmi- und Arahant-Stufe kann wie folgt verstanden werden. Saññā und citta vipallāsa bezüglich sukha und subha entstehen aufgrund von Kāma.
- Die meisten apāyagāmi Taten werden mit kāmacchanda nivarana, „Bedeckung eines Geistes“, ausgeführt. Das wird auf der Sotāpanna-Stufe entfernt. Kāmacchanda erscheint, wenn Kāma (nachdenken über Sinnesfreuden) sich optimiert und „blind macht.“
- Ein Sotāpanna hat jedoch Kāmarāga“, was bedeutet, dass ein Sotāpanna immer noch Sinnesfreuden genießt.
- Ein Anāgāmi hat Kāmarāga entfernt, und somit saññā vipallāsa über sukha und subha.
- Erst auf der Arahant-Stufe wird die letzte Spur von Vipallāsa mit der Beseitigung aller Citta Vipallāsa entfernt. Dies wird im Samāropanahāra Vibhaṅga erklärt.
- Die folgenden Diagramme bieten eine Zusammenfassung (der Dank geht an Seng Kiat Ng):
