Anattā in der Anattalakkahana Sutta (SN22.59)

1. Attā ist ein Pāli-Wort mit zwei Grundbedeutungen, die sehr unterschiedlich sind und vom Kontext abhängen.

  • Im herkömmlichen Sinne bedeutet „attā“ einfach „eine Person“, wie wenn man jemanden „Thomas“ nennt. Im ländlichen Sri Lanka könnte man, um sich auf jemanden zu beziehen, „dieser atta“ ((මේ ඇත්තා oder මේ අත්තා) sagen, genauso wie wir sagen „diese Person“.
  • Die tiefere Bedeutung von „atta“ ist „volle Kontrolle“ und „hat Substanz“.
  • Wenn jemand die volle Kontrolle über ETWAS hat, kann dieses DING sein bzw. ihr attā genannt werden. Wenn etwas nicht unter vollständiger Kontrolle ist, ist das anattā.
  • Dies hängt mit den Schlüsselkonzepten „anattā“ und „anatta“ zusammen (eins der drei Merkmale der Natur bzw. Tilakkhana). „Anatta“ bedeutet „keine Kontrolle“ und „ohne Substanz“ bzw.  „ohne Essenz“.

2. Daher müssen wir basierend auf dem Kontext entscheiden, welches „attā“ gemeint ist.

  • Zum Beispiel bezieht sich das Wort „rechts“ auf eine Richtung beim Fahren oder Gehen: „Biegen sie rechts ab“. Wenn man aber sagt, „Er/sie ist rechts.“, meint man etwas ganz anderes.

3. Die Verwendung von atta im weltlichen Sinne wird im berühmten Dhammapada-Vers 160 deutlich: „attā hi attanō nāthō“. Dort bezieht sich „attā“ auf „irgendeine Person“. Der Vers sagt, dass jedes Wesen seine eigene Zuflucht ist (Nibbāna). Sogar der Buddha kann nur den Weg weisen.

  • Ein anderer Vers ist „attānam damayanti panditā„, was bedeute, „eine weise Person würde sich selbst kontrollieren/disziplinieren“ (Dhammapada 80).

4. Die zweite und tiefere Bedeutung von attā (als Gegenteil von anattā) wurde vom Buddha in seiner zweiten Lehrrede nach dem Erreichen der Buddhaschaft beschrieben.

In der zweiten Lehrrede, Anattalakkhana Sutta (SN 22.59), heißt es: “Rūpaṃ, bhikkhave, anattā. Rūpañca hidaṃ, bhikkhave, attā abhavissa, nayidaṃ rūpaṃ ābādhāya saṃvatteyya, labbhetha ca rūpe: ‘evaṃ me rūpaṃ hotu, evaṃ me rūpaṃ mā ahosī’ti. Yasmā ca kho, bhikkhave, rūpaṃ anattā, tasmā rūpaṃ ābādhāya saṃvattati, na ca labbhati rūpe: ‘evaṃ me rūpaṃ hotu, evaṃ me rūpaṃ mā ahosī’ti“

Übersetzt: „Bhikkhu, Form (physischer Körper) ist anattā (bzw. „nicht attā„). Denn wenn, Bhikkhu, der Körper attā wäre, hätte man die volle Kontrolle darüber, und man könnte sagen: „Lass meinen Körper so sein, lass meinen Körper nicht so sein.“ Aber weil der Körper anattā ist, verfällt er und wird krank, und es ist nicht möglich, den Körper so zu machen, wie man es sich wünscht: „Lass meinen Körper so sein, lass meinen Körper nicht so sein“.

5. Der Vers in Nr. 4 ist sehr wichtig, da er klar sagt, was im tieferen Sinne mit attā und anattā gemeint ist: attā wäre die voller Kontrolle. Wenn man die volle Kontrolle über etwas hätte, wäre man in der Lage, es so zu erhalten, wie man möchte.

  • Wir denken z.B. gerne, dass wenn wir etwas „besitzen“, wir auch in der Lage sein sollten, die volle Kontrolle darüber zu haben. Aber wir wissen, dass dies nicht der Fall ist. Autos, Häuser, einfach alles entwickelt sich auf eigene Weise. Auch wenn bspw. Goldschmuck sehr stabil ist, verlieren wir die Kontrolle darüber, wenn wir sterben.
  • Insbesondere wenn der Körper atta wäre, sollte man ihn sich so machen können, wie man es gern hätte: stark, gesund und schön. Zudem wäre man in der Lage, den Körper im besten Zustand aufrechtzuerhalten, ohne irgendwelche Krankheiten oder Verletzungen zu erleiden. Damit könnte man ewig leben. Aber all das ist nicht möglich, egal was wir tun.

6. Dies wird in einem anderen Vers der Sutta betont: „Taṃ kiṃ maññatha, bhikkhave, rūpaṃ niccaṃ vā aniccaṃ vā”ti? – “Aniccaṃ, bhante”. – “Yaṃ panāniccaṃ dukkhaṃ vā taṃ sukhaṃ vā”ti? – “Dukkhaṃ, bhante”.

Übersetzt: „Was denkt ihr, Bhikkhu, kann man seinen Körper nach Belieben erhalten oder nicht?“ – „Nicht möglich, Bhante.“ – „Führt das zu Glück oder zu Leiden?“ – „Leiden, Bhante„.

  • Wie wir bereits gesehen haben, ist es die Anicca-Natur (Unfähigkeit, die eigenen Wünsche dauerhaft zu erfüllen), die zu Leiden führt.
  • Das Leiden entsteht, wenn etwas aus unserem Besitz kaputt geht (Haus, Auto, usw.) oder wenn jemand krank wird oder stirbt, den wir lieben. Das schlimmste Leiden entsteht jedoch, wenn man selbst krank wird oder der eigene Tod naht. Dies kommt im nächsten Teil des obigen Verses zum Ausdruck.

7. Der Vers geht weiter: “Yaṃ panāniccaṃ dukkhaṃ vipari­ṇāma­dhammaṃ, kallaṃ nu taṃ samanupassituṃ: ‘etaṃ mama, esohamasmi, eso me attā’”ti? – “No hetaṃ, bhante”.

Übersetzt: „Wenn etwas nicht nach Belieben aufrechterhalten werden kann, wenn es unerwartete Veränderungen erfährt und zu Leiden führt, ist es angemessen zu sagen: ‚Dies ist mein, das bin ich, das ist mein attā (mein Wesen)‘?“ – „Nein, Bhante.“

  • Jetzt kommen wir zum tieferen Aspekt. Wenn X ein Auto besitzt, würde X sagen: „Dieses Auto gehört mir“. Wenn das Auto kaputt geht, wird X unglücklich (Leid).
  • X wird jedoch niemals sagen: „Dieses Auto bin ich, das ist mein attā (meine Essenz)“.
  • Andererseits wird X wahrscheinlich sagen: „Dieser Körper bin ich, das ist mein attā (meine Essenz/mein Wesen)“.

8. Der Buddha  wies logisch darauf, dass der Körper nicht nach Belieben erhalten werden kann, da er sich unerwartet verändert und zu Leiden führt. Daher ist es NICHT angebracht, den Körper so zu betrachten: „Dies ist mein, das bin ich, das ist mein atta (meine Essenz)“.

  • Dies muss in der Tiefe betrachtet werden. Es ist ein Schlüsselaspekt, um zu verstehen, was mit Sakkāya Ditthi gemeint ist.

9. Darüberhinaus ist es nicht nur der eigene Körper, sondern jedes Rūpa (Familie, Freunde, Autos, Häuser, Beziehungen usw.) steht nicht unter unserer Kontrolle. In unserer tiefen Vergangenheit hatten wir niemals die Kontrolle über externe oder interne Rupa, und wir werden auch in der Zukunft niemals dazu in der Lage sein. Daher ist der ganze Rūpakkhandha anattā.

  • Die Sutta wiederholt nun dasselbe Argument für die anderen vier Khandhās bzw. Aggregate: Vedanākkhandha, Saññākkhandha, Sankhārakkhandha, Viññānakkhandha.
  • Das sind unsere Gedanken, Erfahrungen, Hoffnungen und Träume. Wir haben nicht viel Kontrolle darüber, und jede kleine Kontrolle, die wir haben, geht spätestens mit dem eigenen Tod verloren. Wir haben keine Ahnung, wo wir als nächstes geboren werden und wir sind wirklich hilflos in diesem endlosen Wiedergeburtsprozess. Das ist anatta.

10. Ein „Lebewesen“ ist immer durch die fünf Aggregate gekennzeichnet. Da man keine wirkliche Kontrolle über diese Aggregate hat, kann man auch nichts davon als atta bezeichnen. Die Aggreagte entwickeln sich als fließender Prozess Moment für Moment je nach Kamma Vipaka und Gathi.

  • Daher gibt es NICHTS, das man als das eigene bezeichnen und so nach Belieben erhalten kann. Zum Beispiel hat man keine Kontrolle darüber, wo man wiedergeboren wird oder was man in den kommenden 5 Minuten denkt oder tut.

11. Dies kann ausgedrückt werden, indem man sagt, dass man „kein wirkliches inneres Wesen hat“, „auf lange Sicht hilflos ist“, „alle Kämpfe um ein dauerhaftes Glück zu nichts führen“ usw. Auch wenn man ein perfektes und gesundes Leben hat, wird man hilflos beim Tod und die Zukunft ist völlig ungewiss.

  • Deshalb ist ein Lebewesen IMMER der Anatta-Natur unterworfen. Rupam anatta bezieht sich auf die Tatsache, dass der Körper nicht attā sein kann und dass anatta (ohne langes „ā“) ​​ein Merkmal der Natur ist.
  • Das Erkennen dieses Aspekts der Anatta-Natur ist das Entfernen von Sakkāya Ditthi, d.h. die fünf Aggregate eines Menschen betrachtet man nicht mehr als „Dies ist mein, das bin ich„.

12. Nun können wir sehen, dass der Begriff anatta dem Begriff Seele in den abrahamische Religionen oder dem atma im Hinduismus deutlich entgegen steht. Laut diesen Religionen gibt es ein Attā, was „Seele“ oder Atma ist.

  • Bei den abrahamischen Religionen ist es das Ziel, die Seele zu „reinigen“ und in den Himmel zu bringen, wo man für immer leben wird.
  • Beim Hinduismus ist das Ziel, sein Atma mit dem Mahā Brahma zu verschmelzen und wiederum für immer in diesem Brahma-Reich zu leben.
  • Der Buddha erklärte jedoch, dass es kein Reich in dieser Welt gibt, das eine solche permanente Existenz zulässt. Das Konzept einer „ewigen Identität“ oder Seele/Atma wird im Tipitaka als Sāssatavāda bezeichnet.

13. Diejenigen, die nicht an Wiedergeburt glauben, sagen, dass eine „Person“ nur existiert, solange ihr Körper lebt. Wenn die Person stirbt, endet diese Identität. Die meisten Wissenschaftler scheinen heute dieser Idee zu folgen: Es gibt nichts, was auf ein nächstes Leben „übertragen“ wird. Dieses Konzept wird im Tipitaka Uccedavāda genannt.

  • Aber der Buddha erklärte, dass die wahre Natur zwischen diesen beiden extremen Sichtweisen liegt. Jedes „Lebewesen“ existiert als sich ständig ändernder Lebensstrom und dieser „Lebensstrom“ wird auf ein neues Leben übertragen. Aber es gibt NICHTS, was in diesem Lebensstrom GLEICH bleibt. Das nächste Leben kann sich sehr vom jetzigen unterscheiden. Siehe Was reinkarniert?.
  • Das nächste Leben wird durch Ursachen und Bedingungen bestimmt, die zum Zeitpunkt des Verlassens der aktuellen Existenz (cuti-patisandhi) auf der Grundlage von Paticca Samuppāda vorliegen.

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